dOCUMENTA (13)

Essay nach Besuch der dOCUMENTA (13)

Die dOCUMENTA (13) –
Versuche eines Resümees

Die dOCUMENTA (13) war sicher ein riesiger Erfolg beim Publikum: 860.000 Besucher, viele blieben mehr als zwei Tage in Kassel. Wer sich, wie wir, drei Monate mit den Materialien der dOCUMENTA befassen konnte und drei Tage vor Ort in Kassel sein durfte, bekam einen gute allumfassende Einsicht, wenn auch nur einen begrenzten Einblick in die Welt der zeitgenössischen Kunst.
Zu sehen bekamen wir zeitgenössische Kunst im Spiegel weltwirtschaftlicher Krisen und politischer, sozialer und gesamtgesellschaftlicher Umbrüche. Es ist natürlich kaum möglich 160 Künstlern an 5 Ausstellungsorten in 3 Tagen über die Schultern zu schauen, in diesem Fall kann man sich nur einen Überblick verschaffen.

Aber einen Überblick über was eigentlich und ist es möglich ein Resümee zu ziehen? Was wurde uns erzählt und was konnten wir dabei beobachten? Ich versuche an meinen Lieblingsstücken dieser dOCUMENTA (13) einen roten Faden durch diese Ausstellung zu ziehen, um herauszufinden, was bleibt, was nehmen wir mit nach Hause.

Diese dOCUMENTA (13) wollte ein Fest sein, keine Party. Ihre Tradition sollte wieder erleuchten. Seit 1955 findet alle 5 Jahre in Kassel diese eine Ausstellung über 100 Tage statt. Die Kuratorin Carolyn Christov- Bakargiev (ab jetzt genannt: CCB) lud zeitgenössische Künstler ein, die in ihren Arbeiten gesellschaftliche Probleme reflektierten und Geschichten zu erzählen hatten. Diese Ausstellung war in der Auswahl der Künstler eine sehr persönliche, auch wenn diese Kuratorin sich von vielen Empfehlungen des internationalen Kunstmarkts, von ihren Freunden, Bekannten leiten ließ. 95 % aller Künstler hatten nach einem Besuch in Kassel ein Werk speziell für diese dOCUMENTA geschaffen.

CCB ist Spezialistin in Sachen ARTE POVRA und so speiste sich ihr Fundus mit dem Anspruch nach Schlichtheit und dem Einfachen, mit der entsprechenden Deutungsvielfalt. Es ist daher nicht erstaunlich, dass als erster Penone am 21.Juni 2010 seinen „Baum der Erkenntnis“ im Kontext von Natur und Kunst in die Karlsaue stellte. Dieser Bronzebaum war verblüffend und entlockte Kindern und Eltern ein dickes Staunen. Der unsichtbare Wandel, mehr noch, die Symbiose von Kunst und Natur in dieser Außenskulptur stellt ein klares Bekenntnis dar für eine Richtung zeitgenössischer Kunst. Dieser Baum wird aber auch unsichtbar zu einer Erinnerung an Beuys Aktionen 7000 Eichen für Kassel, eine Art Baum-Stein-Paar.

Solcherlei Zusammenhänge waren sehr viele auf dieser dOCUMENTA zu finden, gewollt sollte Historisches mit zeitgenössischen Erkenntnissen sinnlich, energetisch auf wissenschaftlichen und künstlerischen Feldern zusammengeführt werden.

So zum Beispiel bei der Arbeit von Michael Rakowitz. Er hat 2012 einen Workshop mit dem Bildhauer und Restaurator Bert Braxenthaler für Schüler aus der Gegend um die archäologischen Stätten von Bamiyan, nahe der zerstörten Buddastatuen, organisiert. Dabei entstanden Steinbücher nach den Vorbildern der 1941 verbrannten Bücher in Kassel. Die Arbeit trägt den Titel: „ What Dust Will Rise?“ (Wie viel Staub kann ein einzelner Reiter schon aufwirbeln?) Ist hier eine Art globale Wiedergutmachung gelungen? Die Stadt Kassel hat nach der Ausstellung diese Arbeit gekauft. Wenn man die Geschichte der Entstehung dieser Arbeit kennt, erschließt sich für einen eine soziale Plastik, die eine metaphorische Linderung bewirkt und Vergänglichkeit neu definiert.

Ähnliche Parallelen gab es bei der Arbeit von Mario Garcia Torres, der die blinden Flecken der jüngeren Kunstgeschichte und das immaterielle Vermächtnis konzeptioneller Gesten untersuchte. Torres spürte in seinem Videoessay die Spuren von Boettis (Arte Povra) HOTEL ONE auf und befragte somit das Auftauchen und Verschwinden von Geschichte und Kunst. Ohne Boetti keine Arbeit von Torres.

Von Julio Gonzáles wurde gar die gleiche polierte Metallskulptur ausgestellt wie auf der zweiten Documenta 1959, da ein Foto davon CCB besonders beeindruckte. Es zeigt auch zwei Besucher, die Frau davon barfuss. Dieser Arbeit war ein ganzer Raum gewidmet, in dem auch ein leichtes Lüftchen Gedanken von damals nach heute bewegte und zeigen konnte, wie viel sich verändert hat, allein an den Füßen der Betrachter.

Wie Vergangenes wiedergekehrt kann und verschwundenes Leben erhalten bleibt, zeigt auf beeindruckende Weise die Arbeit von István Csákány. Eine Schneiderei aus Kiefer, alle Maschinen, Lampen, Tische, Bügelbretter und sonstigen Gegenstände waren tatsächlich aus Holz geschnitzt. Dieser Fleiß hatte etwas sehr Beindruckendes, ein sinnlich berührender Funken ging von dieser Arbeit aus. Wie auf einem Laufsteg standen daneben Kleiderpuppen ohne Kopf, aber mit blauen Anzügen bestückt, als Gruppen drapiert, wie zufällig angeordnet, gleichzeitig aber auch lebendig und dynamisch, als wenn sie miteinander plauderten. Über die Vergangenheit zum Beispiel, ein Austausch von Erinnerungen, wobei hier sicher das organische, weiche, gleichwohl strenge Holzmaterial diese Wahrnehmung zusätzlich leitet und fördert. Die Zeit steht still.

Das Gegenteil davon ist die Arbeit der in Warschau geborenen Goshka Macuga. Sie erkundet eine geisterhafte Zone von Halbwahrheiten. Sie erkundet ein sich Einlassen auf Illusionen. Sie setzte zwei Wandteppiche zu einem Panoramabild zusammen, darauf zwei Kulturereignisse: die Feierlichkeiten des Arnold Bode Preises 2011 in Kassel, diese wiederum montiert auf eine Rasenfläche in der Karlsaue. Weiter wurden der Kabuler Königspalast und Gäste der Künstlerin bei einem Festessen in Bagh- e – Babur- hinzugefügt. Es ist eine Freude, alle Merkwürdigkeiten dieser Teppiche herauszufinden.

Julia Mehretu stellte in der Documentahalle großflächige Malerei aus. Sie legte Dias übereinander und zeichnete diese ab. So wirft sie einen Blick auf Architektur als Sozialgeschichte am Beispiel revolutionärer Plätze, in denen sich 2011 Menschen versammelt haben, um für Veränderungen zu demonstrieren (z.B. Tahir Platz und Zuccotti Park) Von Nahem erkennt man auf Pergament Architekturpläne, von Weitem große bunte Bewegungen auf schwarz-weißem Papier. Beeindruckend, auch wenn man auf den ersten Blick überhaupt nicht verseht, warum?

Zum Schmunzeln regte der Raum von Roman Ondak an. Jener hatte in einem Buch über Wahrnehmungen Bilder gefunden und ausgeschnitten, die er nun zu Triptychen und Diptychen zusammengestellt hat und ihnen neue Untertitel gab. Hier wird die abgebildete Welt neu benannt, Erwartungen nicht erfüllt, eine neune Form der Malerei oder Fotographie?

Eins kann man sicher über diese Documenta sagen, sie ist eine Ausstellung der Vielheit gewesen, des Addierens von Mensch und Tier und allem, was dazu gehört. Man konnte meditieren und Erdbeeren kaufen, Hunde treffen und seine eigenen mitbringen. Aber sich auch wie sonst bei Ausstellungen anstellen und Bilder, Videos und alles schauen, was gerade in der moderne Kunst als Richtung auf dem Markt ist. Niemand konnte überhaupt alles sehen, der Zufall oder ein genauer Plan, je nachdem wie vorbereitet man war, ermöglichte überhaupt den Zugriff. Und so war der erlebte Höhepunkt eine Mischung aus Zufall und genauer Vorbereitung.

Letzte führte mich zum Sehenswertesten der dOCUMENTA: Sportstrasse 7, eine Arbeit von Tacita Dean. Sie hatte eigentlich was ganz anderes vor, wollte eine Videoarbeit über Afghanistan zeigen, aber dann war das Filmmaterial nicht wie erwartet. Die dOCUMENTA- Leitung zeigte ihr den Tresorraum eines ehemaligen Finanzgebäudes. Sie ließ dort wandfüllende Schiefertafeln anbringen und malte mit Kreide Berge und Seen, Meere und vor allem Erinnerungen an Afghanistan, verortet mit handschriftlichen Zeichen, Markierungen, über zwei Stockwerke verteilt. Der Raum hatte etwas sehr Berührendes, man wird verzaubert. Warum? Vielleicht, weil es so simpel ist, vielleicht, weil es nicht alle Weltprobleme gleichzeitig klärt und gerade deshalb tröstlich ist, oder vielleicht, weil es eben einfach so gezeichnet war: Kreide auf Schiefer, sich verwischend, flüchtig in der Zeit, ein zerbrechliches Minutenwerk für die Ewigkeit. Eine sehr nachhaltige Arbeit, wie sie es nur in diesem Raum gab und die nun bereits der Vergangenheit angehört. Auf eine nächste Ausstellung dieser Künstlerin freue ich mich schon sehr.

Und nun wage ich ein Fazit: es war viel zu sehen, wenig zu lachen. Der Kopf hatte ordentlich zu tun und wenn man Glück hatte, konnte man die Beine im Dunkeln bei Tino Segal auch tanzen lassen. Dass Tino Segal das Sehen mit Augen verhinderte, weil er einen in einen schwarzen Raum führte, war schlau, alle weiteren Laute und Texte in diesem Dunkel eher unnötig banal.

Betrachtet man diese dOCUMENTA (13) als eine große, überbordende Performance und nimmt CCB immer wieder angeführtes Zitat: „Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit“ ernst, so mag ihr Plan, von ihren eigenen Ansprüchen ausgehend, aufgegangen sein. Im guten Sinne würde es heißen, dass diese Ausstellung etwas in Bewegung brachte, Gedanken und Körper in Schwung geraten ließ. Dies allerdings zu Lasten intellektuell fordernder, konzentrierter Reibungsflächen. Der Kunstbetrachter hätte sich mitunter gewünscht, hier fester bei der Hand genommen (und auch verunsichert) zu werden. Kritisch formuliert: CCB gab keine Richtung vor, eher einen Strauß bunter Möglichkeiten.

Katrin Hentschel
September 2012